Klartext

Münsters Parteien zwischen Aufwind und Absturz

Der Autor: Rüdiger Sagel ist ein politisches Urgestein in Münster. Lange Jahre saß er erst für die Grünen, dann für die Linkspartei zunächst im Landtag, zuletzt im Stadtrat. Seine aktive politische Karriere hat er mit Ablauf der Legislaturperiode beendet.

Der Autor: Rüdiger Sagel ist ein politisches Urgestein in Münster. Lange Jahre saß er erst für die Grünen, dann für die Linkspartei zunächst im Landtag, zuletzt im Stadtrat. Seine aktive politische Karriere hat er mit Ablauf der Legislaturperiode beendet.

Aktuelle Wahlumfragen zeigen deutlich: Die lange Zeit festgefügt erscheinende politische Landschaft ist enorm in Bewegung geraten und neue Koalitionen werden möglich. In Münster zeigte sich bereits bei der Kommunalwahl 2020, dass wesentlich dabei die Krise und der Absturz der beiden traditionellen großen (Volks-) Parteien CDU und SPD in Deutschland ist. Doch was heißt das konkret für die aktuelle politische Entwicklung auch in Münster? Was wird sich für die Bürger*innen verändern , fragt unser Gastautor Rüdiger Sagel.

Münsters Grüne sind im neuen Rathausbündnis seit der Kommunalwahl die beherrschende Kraft. Nach aktueller Umfrage des Münster-Barometer des WWU-Institus für Soziologie, sind sie nun mit 35 Prozent sogar das erste Mal an der CDU mit 32 Prozent vorbeigezogen. Während die SPD schon seit 2005 kontinuierlich den Status der Volkspartei verloren hat, ereilte dies Schicksal die CDU erst kürzlich infolge Coronakrise, Impfstoffmangel, Test-Desaster und ihrer kritikwürdigen Akteure, die sich in Machtkämpfen und Maskenaffären verstrickten.

Nicht nur in Münster zeigte sich bei der Aufstellung ihres Bundestagskandidaten, dass die CDU derzeit stark verunsichert und tief gespalten ist. Hingegen scheint für die professionell auftretenden Grünen bei der Bundestagswahl, und für ihre Frauen an der Spitze, nicht nur die Kanzlerschaft, sondern auch das Direktmandat in Münster möglich.

Begünstigt wird dies vor allem durch die weiter mit massivem Vertrauensverlust behaftete SPD, die auch in Münster haltlos bei nur noch 14 Prozent danieder liegt. Das wird sich kaum ändern lassen, selbst wenn die SPD mit ihrer Bundesumweltministerin Svenja Schulze als Münsters Direktkandidatin bei der Bundestagswahl eine ihrer letzten Prominenten ins Rennen schickt.

So können zur Zeit die Grünen, die insbesondere den jüngeren Wählenden eine Stimmung des Aufbruchs suggerieren, wie ein Staubsauger gerade die Stimmen in der bürgerlichen Mitte, wohin sich die Partei seit Jahren orientiert, aufsaugen. Sie positionieren sich weder wie früher als linke, aber auch nicht als rechte Partei – sondern sie verkoppeln einfach wie jeweils passend, unterschiedliche gesellschaftliche Systeme miteinander.

Wählt uns, vertraut uns, wir machen dann schon den Rest. Und es wird auch nicht so arg wehtun. So wie einst Kohl “blühende Landschaften” ohne radikale Maßnahmen versprach, versprechen nun die Baerbock Grünen die Umsetzung des 1,5-Grad-Ziels mit gemäßigten Mitteln. Ob das gelingen kann?

Herzensanliegen oder Blockade

Doch auch andere und neue Parteien, wie die in der neuen Münster-Koalition eingebundene Volt, die hier mit vier Prozent gleichauf mit der FDP liegt, können womöglich an den freigewordenen Rändern profitieren.

Wer aber letztlich in in breiten Kreisen der Stadtgesellschaft perspektivisch punkten kann, und was sich für Münsters Bürger*innen tatsächlich verändert. bleibt noch abzuwarten. Nach sechs Monaten Regentschaft der Grünen, die nicht nur in der neuen Rathauskoalition, sondern seit der Kommunalwahl auch in der Stadt den Ton angeben, scheint nichts wesentlich anders als zuvor. Zwar wurden im Stadtrat und Ausschüssen fleißig Papiere gewälzt, doch eine wirklich neue Politik ist selbst bei Grünen Herzensanliegen bisher nicht erkennbar. Denn was im Rat beschlossen wird, das ist noch lange nicht, und schon gar nicht kurzfristig, umgesetzt.

Bei einer nach wie vor von der CDU dominierten Verwaltung dümpeln Ratsbeschlüsse manchmal auch jahrelang auf den Schreibtischen in den Zimmern der Verwaltungsbeamten, wie beispielsweise die mehrheitlich beschlossene Vorfahrt auf der Promenade. Sicherlich sind, wie auch dies Projekt, nicht alle Ratsbeschlüsse zu Ende gedacht, doch immer wieder werden auch neue Hinderungsgründe vorgeschoben. Sind die teils noch unerfahrenen und neuen Ratsmitglieder in der Lage, den nötigen Biss und die Beharrlichkeit aufzubringen, um den trägen Verwaltungsapparat wirklich in eine neue Richtung in Bewegung zu setzen?

Zwar sehen Münsters Bürger*innen die Grünen als die neue starke Kraft an. Doch können sie ihre Machtposition gegen die seit der Kommunalwahl oppositionelle CDU auch tatsächlich durchsetzen? Es wäre nicht das erste Mal, dass Initiativen und neue Vorschläge in den Mühlen einer Verwaltung zerrieben werden. Zudem rudert auch die neue Rathauskoalition schon an wesentlichen Stellen bereits immer weiter zurück. Sollte laut Grünen-Wahlprogramm die autofreie Innenstadt bis 2025 realisiert werden, ist davon jetzt keine Rede mehr.

Auch Münsters nicht nur klimapolitisch höchst umstrittener Flughafen wird mit Millionensummen aus städtischen Kassen auf Jahre weiter finanziert. Und andere fragwürdige Projekte wie der “Musikcampus”, der als Lieblingsprojekt der CDU gilt, werden nur in die Zeitachse geschoben, aber nicht aufgekündigt. Nur beim ökologisch und verkehrspolitisch kontraproduktivem “Flyover” zwischen Aasee und Promenade soll es jetzt ganz schnell gehen. Offensichtlich droht hier bei längerer Debatte das Projekt ins Wasser zu fallen. Und bei Münsters größtem Problem, dem Wohnungsbau, ist nicht erkennbar, wie man die weiter grassierende Wohnungsnot ernthaft eindämmen, die drastisch hohen Mieten begrenzen und mehr neuen bezahlbaren Wohnraum schaffen will. Denn der nicht nur von der SPD gemachte Vorschlag eines neuen Stadtteils wurde bereits bei den Koalitionsverhandlungen eingesammelt.

Obwohl stark in der Wählergunst gesunken, spielt die SPD gerade und auch bei vielen Zukunftsprojekten, weiterhin eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Auf Druck der erfahrenen Realpolitiker des eher rechten Teils der SPD mussten die Grünen schon bei den Koalitionsverhandlungen Abstriche hinnehmen. Zwar ist die SPD mittlerweile auch in Münsters Öffentlichkeit kaum noch wahrnehmbar und hat ihre Verankerung und Bodenhaftung in der Stadtgesellschaft ziemlich verloren. Doch hinter den Kulissen ist sie weiterhin durchaus einflussreich, nicht zuletzt weil CDU und SPD sich oftmals näher sind, als vielleicht vermutet wird. Weder eine autofreie Innenstadt noch bahnbrechende ökologische und soziale Veränderungen stehen für die SPD im Zentrum ihres Handelns.

Denn der eigentliche Markenkern des Sozialen ging der SPD verloren, eine Zukunftsperspektive fehlt. Für die fehlende soziale Sicherheit durch ungelöste Probleme der Digitalisierung, Globalisierung und international agierender Konzerne hat die SPD kaum konkrete Lösungen. Die traditionell in Münster aber schon immer wenig ausgeprägte Arbeiterschaft, wurde durch die Agenda-Politik in Zeiten des technologischen Umbruchs in Unsicherheit gestürzt. Dies wurde und wird insbesondere der SPD weiter angelastet, wovon sich die Partei nie erholt hat.

Ganz im Gegensatz zu den einst mitbeschließenden Grünen. Erkennbare Lösungen für große Teile der abgehängten Bevölkerung auch in Münster, und nach der Corona-Pandemie, gibt es nicht. Zudem auch keine Perspektive für die seit langem erodierende Schicht und das schwindende Milieu der klassischen Arbeiterschaft, sowie die nicht näher beschriebenen “kleinen Leute”. Und durch die Agenda 2010 und den damit verbundenen Hartz-Gesetzen, hat die SPD nach wie vor ein grundlegendes Glaubwürdigkeitsproblem, dass anscheinend unaufhaltsam die Wählerbasis aufzehrt.

Dilemma oder Zukunft

Ob die SPD aus diesem Dilemma jemals herauskommt, bleibt abzuwarten. Auch gegen eine nun in Turbulenzen gekomme CDU, die noch in der Endphase von Angela Merkel immer vermittelte, Deutschland ist in sicheren Händen, nicht einfach. Es ist offen, ob die CDU-Krise wie bei der SPD dauerhaft werden wird oder nur ein Zwischentief ist. Eine überzeugende Führungsfigur jedenfalls, welche sich eine CDU-Wählerschaft mehr als Grün Wählende wünschen, ist derzeit noch nicht erkennbar. Selbst wenn jetzt die Kanzlerkandidatur nach brutal anmutenden Auseinandersetzungen geklärt scheint und der CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet bisher noch jede Schlacht am Ende siegreich bestritten hat. Unterschätzen sollten ihn jedoch auch die Grünen nicht, die diese Erfahrung schon 2017 bei der NRW-Landtagswahl machen mussten.

Die Grünen haben ausgehend von globaler Klimakrise und Zukunftsversprechen insbesondere jüngeres Wählerklientel zunehmend an sich gebunden. Als Partei der Besserverdienenden, die von finanziellen Auswirkungen und Verteuerungen der Klimapolitik nicht besonders betroffen ist oder gar profitieren kann, sind sie weiterhin im Aufwind. Doch ob ihre durchaus mit Zumutungen und Verhaltensänderungen verbundene Politik letztlich und dauerhaft bei potentiellen Wähler*innen verfängt, bleibt auch noch abzuwarten. Um nicht wieder in selbst gestellte Fallen wie Steuerhöhungen, Veggie Day oder Verbotsbeschlüsse zu tappen, ist das Grüne Wahlprogramm durchaus schwammig geblieben. Insoweit ist tatsächlich “Alles drin”.

Die FDP kann als Auffanglager für frustierte CDU-Wähler*innen des Wirtschaftsflügels zuletzt wieder profitieren. Als Mischung aus liberaler Bürgerrechtspartei und konsequente Vertretung von Wirtschaftsinteressen punktet sie.

Die Linke hingegen stagniert, jetzt aufgrund einer tiefen doppelten Spaltung. Nicht nur in Münster ist die Partei im Westen als radikaler Flügel und diffuses Gemisch aus Sozialisten, Kommunisten und Abgehängten, sowie besonders kritischen jungen Leute die ein anderes System wollen, nur begrenzt zustimmungsfähig. Außerdem steht sie intern einem populistischen, national orientierten Wagenknecht-Personenkult gegenüber.

Andererseits kann die Linke als ostdeutsche Regionalpartei, wo sie als Partei der alten SED-Eliten gilt, auch nur einen kleineren Teil der “Klasse der Lohnabhängigen” erreichen. Denn die sind heute migrantischer, weiblicher und akademischer als noch vor wenigen Jahrzehnten. Als Partei, welche die Bedeutung des Klimawandels und der fortschreitenden Umweltzerstörung ernst nimmt, bleibt die Linke weitgehend profillos.

So bleibt es spannend in der politischen Landschaft. Für die kommenden Bundestagswahlen ist auch in Münster offen, wer hier gewählt wird und für wen es am Ende reicht. Zwischen Aufwind und Absturz in der Wählergunst liegen oft nur wenige Wochen.


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